• Interview

Kinder und Jugendliche bei einem selbstbestimmten Umgang mit Sexualität im Netz begleiten

Eine Person, die auf dem Boden sitzt, ein Smartphone in den Händen hält und Kopfhörer aufhat.

Digitale Medien sind Teil der Kinder- und Jugendkultur, wie auch die aktuellen KIM- und JIM-Studien des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest zeigen. Junge Menschen nutzen sie auch, um sich zu Themen und Fragen rund um Sexualität zu informieren und ihre sexuelle Identität zu erkunden. Dabei begegnen ihnen Angebote, die Orientierung geben und sie in einer selbstbestimmten Entwicklung unterstützen. Zugleich stoßen Heranwachsende auch auf Inhalte, die sie überfordern und negativ beeinflussen können.

Über Möglichkeiten digitaler Angebote zu sexueller Bildung, Herausforderungen im Netz und darüber, wie pädagogische Fachkräfte und Erziehende junge Menschen dabei begleiten können, selbstbestimmt mit Sexualität umzugehen und ein positives Körpergefühl zu entwickeln, sprachen wir mit der Diplompsychologin, Sexualpädagogin und Bildungsreferentin Dr. Christina Witz.

Möglichkeiten digitaler Medien für einen selbstbestimmten Umgang mit Sexualität

Auf der Suche nach Antworten auf Fragen rund um Sexualität nutzt ein Großteil der Jugendlichen das Internet. Das zeigt auch die regelmäßig erscheinende Jugendsexualitätsstudie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. „Schauen wir uns die letzten Jahre an, so lässt sich beobachten, dass der Anteil derjenigen, die sich online über Themen zu Sexualität informieren, erheblich angestiegen ist. Ein Vorteil, den das Netz bietet, ist die Anonymität: Jugendliche können sich eigenständig informieren, orientieren und ausprobieren, vor allem, wenn es um schambehaftete Themen geht. Zudem bietet der digitale Raum eine enorme Chance für Menschen, die   vermuten, dass sie in Bezug auf ihre sexuelle Identität oder Geschlechtlichkeit anders empfinden, als die meisten um sie herum. So können sie anonym erste Orientierung finden, erfahren, dass andere möglicherweise ähnlich empfinden, sich mit ihnen vernetzen und erkennen, dass es auch andere Lebens- und Liebesmodelle außerhalb des Mainstreams gibt“, sagt Christina Witz.

Ob Fragen, die in Suchmaschinen eingegeben werden, Foren, Beratungsseiten oder Soziale Netzwerke: Die Optionen, sich zu informieren und Wissen anzueignen sind vielfältig. Mittlerweile sind auch die ersten Apps für Kinder und vor allem Jugendliche auf dem Markt. Im Hinblick auf Soziale Netzwerke nutzen junge Menschen gerne TikTok und Instagram. „Hier gibt es eine Bandbreite an Angeboten zu sexualitätsbezogenen Themen. Die Herausforderung besteht darin, qualitativ hochwertige Beiträge zu finden, sie als solche zu erkennen und sie von Desinformationen zu unterscheiden. Es gibt gute Kanäle von (sexual-)pädagogischen Fachkräften, Psycholog:innen oder Mediziner:innen und auch öffentlich rechtlich produzierte Formate, die  sich an Jugendliche richten und dort ansetzen, wo diese unterwegs sind - auf Instagram, TikTok und YouTube“, erläutert Christina Witz. Teil der Jugendkultur ist auch, sich in und mit digitalen Medien auszuprobieren, auch im Hinblick auf intime Beziehungssituationen. Zum Beispiel werden körperbezogene Inhalte, wie selbst generierte Bilder und Videos, miteinander geteilt. Damit verbundene Fragen sind insbesondere „Wie wirke ich auf andere? Wie sieht mein Körper aus? Wer und wie möchte ich sein?“

Herausforderungen und Risiken im Netz: sexuelle Grenzverletzungen und sexualisierte Gewalt

Neben diesen Chancen bietet das Netz auch Risiken für junge Menschen. So können Kinder und Jugendliche auch mit sexuellen oder sexualisierten Inhalten konfrontiert werden, die sie überfordern. „Dies kann der Fall sein, wenn junge Menschen sehr früh auf sexuell explizite Filme stoßen. Auch können sie verzerrte Vorstellungen von Sexualität entwickeln, wenn sie vornehmlich Inhalte konsumieren, die ein enges Bild von Sexualität zeigen, welches die Vielfalt, Sexualität zu leben, außer Acht lässt. Herausfordernd kann das vor allem dann sein, wenn die eigene sexuelle Identität und das eigene Selbstbild noch in der Entwicklung sind und man selbst noch nicht genau weiß, wo man steht und was man will“, schildert Christina Witz.

Ebenso kann es auch im Netz zu Grenzverletzungen kommen – sexuell geprägten Verhaltensweisen, die körperliche und psychische Grenzen überschreiten, nicht erwünscht sind und als respektlos beziehungsweise übergriffig empfunden werden. „Verschicken Jugendliche in einem Klassenchat ungefragt im Scherz untereinander entstandene Bilder, die Kussmünder zeigen oder wie jemand einen Löffel auf eine Art und Weise in den Mund steckt, sodass das Bild eine sexuelle Konnotation bekommt, kann das als sexuelle Grenzverletzung gesehen und empfunden werden.

Von sexualisierter Gewalt lässt sich sprechen, wenn sexuelle Handlungen zur Ausübung von Macht und Gewalt vorgenommen werden. Dazu zählen unter anderem die Anbahnung sexualisierter Gewalt über digitale Medien (Cybergrooming), oder die Erpressung von oder mit intimen Bildern (Sextortion). Auch die unerlaubte Weiterleitung von Nacktaufnahmen oder Bildern mit sexuellen Handlungen zählen dazu und können als bildbasierte sexualisierte Gewalt bezeichnet werden.

Exkurs Sexting

Aufregend ist für einige Jugendliche, die erste Erfahrungen mit Sexualität und Beziehungen machen, auch das Sexting – ein Phänomen, das, wie andere auch, aus der Erwachsenenwelt angeeignet wird. Betreiben Menschen Sexting, ist damit das einvernehmliche und freiwillige Versenden und Empfangen selbstproduzierter intimer Bilder und Videos, so genannte Nudes oder Nacktbilder, sowie erotischer Nachrichten gemeint. „Die Gründe, die sextende Erwachsene benennen, sind unterschiedlich: Die einen sehen für sich in Sexting ein Vertrauensbeweis, andere tun es, um sich gegenseitig zu erregen, manche machen es, weil sie mit einer Person eine Fernbeziehung führen und eine räumlich Distanz besteht, andere tun es aus Langeweile und dann gibt es Menschen, die das Gefühl haben, dass so etwas zu einer Beziehung dazu gehöre. Entscheidend ist, für junge Menschen herauszufinden, worin sie sich sexuell ausprobieren möchten und worin nicht. Hierzu gehört auch ein Wissen um Risiken, wie sie diese reduzieren können und welche Rechte sie und andere haben. Das ist wichtig, um selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen, so auch im Hinblick darauf, ob sie Sexting ausprobieren möchten oder nicht“, erläutert Christina Witz.

„Einvernehmliches Sexting unter Jugendlichen ist erlaubt. Gerät jedoch gegen den Willen einer beteiligten Person ein im Rahmen von Sexting entstandenes Foto oder Video an die Öffentlichkeit, wird es zum Beispiel einer dritten Person zugeschickt oder im Klassenchat geteilt, handelt es sich um bildbasierte sexualisierte Gewalt. Das gilt auch, wenn die Aufnahme auf dem eigenen Smartphone herumgezeigt wird. Personen, die intime Bilder von Jugendlichen verbreiten, machen sich laut Strafgesetzbuch strafbar. Zudem werden auch andere grundlegende Rechte, wie das Recht am eigenen Bild und mitunter das Urheberrecht, missachtet. Besondere Regeln gelten für Abbildungen von Kindern: Sexuelle Darstellungen von Kindern unter 14 Jahren sind durchweg verboten, weil es sich dabei laut Gesetz um kinderpornografisches Material handelt.“

Kommt es zu bildbasierter sexualisierter Gewalt, ist es besonders wichtig, nicht diejenigen, die intime Aufnahmen von sich gemacht haben, dafür zu verurteilen oder ihnen die Schuld zuzuweisen. „Aussagen wie 'Das Bild hättest du gar nicht von dir machen und verschicken sollen' halte ich für unangemessen, weil die betroffene Person nichts dafür kann, dass ihr Bild einfach weiterverbreitet wurde. Es ist wichtig, dass pädagogische Fachkräfte und Erziehende sich hinter die betroffene Person stellen, einen offenen Gesprächsraum anbieten und sie darin bestärken, sich Hilfe zu holen. Dabei geht es auch darum, dass Bilder ggf. möglichst schnell gelöscht werden oder abzuwägen, Anzeige zu erstatten. Zudem sollten sie deutlich machen, dass die unerlaubte Veröffentlichung des Bildes das Problematische ist. Für Betroffene von (sexualisierter) Gewalt online wie offline, ist es wichtig, dass das Umfeld diejenigen klar als verantwortlich benennt, von denen die Gewalt ausgeht. Dies bedeutet zum Beispiel auch, die Verantwortung jeder weiterleitenden Person innerhalb einer Schulklasse oder Jugendgruppe deutlich zu machen“, betont Christina Witz.

Mit der eigenen Haltung auseinandersetzen

Für eine wertschätzende Begleitung von Kindern und Jugendlichen im Umgang mit Sexualität und digitalen Medien sind für Christina Witz insbesondere zwei Dinge entscheidend: „Erstens sollten pädagogische Fachkräfte eine generelle Bereitschaft mitbringen, sich mit dem Thema Sexualität und digitale Medien zu beschäftigen, zum Beispiel durch Fort- und Weiterbildungen. Das bedeutet, sich Fachwissen anzueignen und vor allem Sicherheit darin zu gewinnen, mit Kindern und Jugendlichen aber auch im Team über sexualitätsbezogene Themen zu reden und damit verbundene Aspekte anzusprechen. Junge Menschen brauchen Freiräume, ihre eigene Sexualität und sexuelle Identität zu erkunden und gleichzeitig sind Schutzräume notwendig, um sich mit angst- oder schambehaftete Themen auseinandersetzen oder unangenehme Erfahrungen ansprechen zu können. Wichtig dabei ist für Fachkräfte auch zu lernen, mit der eigenen Scham umzugehen. Jungen Menschen fällt es schwerermit einem erwachsenen Menschen das vertrauensvolle Gespräch zu suchen, wenn die Ansprechperson selbst fast vor Scham im Boden versinkt. Zweitens geht es um die eigene Haltung zu Sexualität und um die Auseinandersetzung mit eigenen Moral- und Wertevorstellungen. Mir ist es in den Fortbildungen, die ich für pädagogische Fachkräfte anbiete, immer besonders wichtig, Raum für die Auseinandersetzung mit der eigenen Haltung anzubieten. Als pädagogische Fachkraft kann jemand zum Beispiel eine Anti-Sexting-Haltung haben, dennoch sollte sie Jugendliche begleiten können, also über Chancen und Risiken aufklären, sie darin unterstützen, Hilfe zu finden, und darin bestärken, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen.“

Mehr Informationen

  • Auf der Webseite „dickstinction“ können Menschen, die ungefragt Dickpics zugeschickt bekommen, schnell und unkompliziert eine Strafanzeige stellen.
  • Infos zum Thema Sexting und unerlaubte Bildweitergabe findet sich auch auf der Seite der polizeilichen Kriminalprävention des Bundes und der Länder.
  • Orientierung zu Fragen um Sexualität und digitale Medien gibt auch das kostenfreie Angebot ZEBRA der Landesanstalt für Medien NRW.
  • Umfassende Hinweise für Jugendliche zum Austausch intimer Bilder finden sich auf der Webseite Safer Sexting. Die Seite bietet auch Informationen für pädagogische Fachkräfte.
  • AJS NRW hat eine Info-Broschüre zum Thema sexualisierte Gewalt im digitalen Raum für Eltern und pädagogische Fachkräfte veröffentlicht.